Auf den Spuren von Tradition und Vergänglichkeit in Japan

Ein Gespräch mit der japanischen Fotografin Michiko Chiyoda

Menschliche Schicksale, die Vergänglichkeit des Lebens und der Umgang mit tiefer Trauer sind ein zentrales Thema in den Bildern der japanischen Fotografin Michiko Chiyoda. Im Interview mit xPlicitAsia spricht sie über ihre Inspiration und die Fotografie als Medium der Erinnerung.

Die einsame Pilgerreise eines Mönchs aus dem 16. Jahrhundert, der Verlust ihrer Mutter und die Bedeutung von Leben und Tod inspirieren die kraftvollen Aufnahmen von Michiko Chiyoda aus Japan. Die Fotografin weiß, dass Bilder dabei helfen können, sich den Verlust eines Menschen zu vergegenwärtigen und mit ihm umzugehen. Mit ihren sanften und introspektiven Aufnahmen tastet sie sich an die Vergänglichkeit an und lässt gleichzeitig die uralten Traditionen ihres Landes aufleben. Ihre Bildsprache ist stark von ihrem kulturellen Erbe beeinflusst und wurde mehrfach ausgezeichnet. Wir hatten die Ehre, mit Michiko Chiyoda über ihre Arbeit und ihre Inspiration zu sprechen.

Was hat dich dazu inspiriert Fotografin zu werden und wie hast du angefangen, als solche zu arbeiten?

Nach Abschluss meines Studiums habe ich zuerst in einer Werbeagentur und später in der PR-Abteilung eines Herstellers in der Fotobranche gearbeitet. Zu dieser Zeit bekam ich täglich jede Menge wunderschöner Fotos zu Gesicht. Das hat mich letztendlich dazu inspiriert, selbst Fotos zu schießen. Seither habe ich insgesamt 6 Einzelausstellungen gehalten, die Letzte war im Januar 2019. Auch an jährlichen Gruppenausstellungen nehme ich regelmäßig teil.

Wie würdest du deinen persönlichen Aufnahmestil definieren?

Meine Bilder basieren in erster Linie auf meinen persönlichen Erfahrungen und auf allem, was um mich herum passiert. Seit einigen Jahren liegt der Schwerpunkt meiner Arbeit auf menschlichen Schicksalen, in dessen Angesicht wir machtlos sind und unsere eigenen Grenzen erkennen müssen. Schicksal, Grenzen und Machtlosigkeit sind allesamt Elemente unserer Traurigkeit. Der Umgang mit diesen Themen brachte mich häufig zum Nachdenken. Ich denke, dass mit unserer Traurigkeit auch ein starkes Gefühl von Empathie einhergeht. Außerdem haben Menschen einen starken Willen, von vorne anzufangen, wenn sie traurig sind. Daher hoffe ich, dass meine Arbeiten Vielen hilft, nach einem schweren Schicksalsschlag wieder Mut zu fassen, erste Schritte zu wagen und ein neues Leben zu beginnen.

Starting a new journey © Michiko Chiyoda

Welchen Einfluss hat dein kulturelles Erbe auf deine Kunst und inwiefern beeinflussen dich japanische Traditionen?

Zunächst einmal bin ich stark vom japanischen Buddhismus, dem Shintoismus und Wabi-Sabi (Anm. der Red.: Wabi-Sabi ist ein ästhetisches Konzept, das eng mit dem japanischen Zen-Buddhismus verbunden ist) beeinflusst. Das hab ich nicht aktiv gefördert oder erlernt. Die Werte des Shintoismus, des Buddhismus und damit einhergehend auch die Weltanschauung von Wabi-Sabi liegen meinem Leben auf natürliche Weise zugrunde. Mein künstlerischer Ausdruck ist zudem zum Teil von klassischen japanischen Malereien beeinflusst. So zum Beispiel vom Stil der Rimpa-Schule (Anm. der Red. Rimpa ist eine Schule der japanischen Malerei, die sich stilistisch durch die Verwendung von leuchtenden Farben auszeichnet). Was die klassische japanische Malerei angeht, so möchte ich definitiv noch mehr über die Ideengebung, den Symbolismus, die Komposition und über das Gleichgewichtsgefühl zwischen Rhythmus und Stabilität lernen.

Basierend auf meiner Leidenschaft für die uralten Traditionen meines Landes begann ich die Aufführung uralter Tänze und Musik im Shinto (Kagura), sowie die traditionelle, japanische Form des Figurentheaters (Ningyō Jōruri) zu fotografieren. Diese Leidenschaft – gepaart mit meinem Wissen über diese Traditionen – ist ein wesentlicher Ausdruck meiner Arbeit.

Oshichi © Michiko Chiyoda

In deiner Fotoserie ‘Michiko Chiyoda – Starting a new Journey’ scheinst du den Verlust deiner Mutter und damit einhergehend – die Erinnerungen die du mit ihr teilst – zu verarbeiten. Inwiefern haben deine Eltern deine Kreativität und deinen Arbeit beeinflusst?

Ich wuchs inmitten einer sogenannten ‘Künstlerfamilie’ auf. Mein Vater war ein Fan der Fotografie. Mein Onkel war ein Maler und sowohl meine Großmutter, als auch meine Mutter waren Lehrer der Kalligraphie. So habe ich früh ein Interesse daran entwickelt, mich künstlerisch auszudrücken. Die Leidenschaft und Liebe, mit der meine Familie ihrer Arbeit nachging, spielt heute eine Schlüsselrolle in meiner Kunst.

Was hat dich zu deiner Fotoserie ‘Oshichi’ inspiriert?

Ich bin eines Tages in einem Puppenmuseum über eine Puppe gestolpert, die mich mit ihrem Gesichtsausdruck und ihrem Aussehen wie magisch anzog. Die Geschichte dieser besonderen Puppe hat mich insbesondere inspiriert, denn diese Puppe ist die Nachbildung der berühmten Yaoya Oshichi. Der Legende nach war Yoya Oshichi eine junge Frau aus Edo, die 1682 vor einem Brand in einen Tempel floh. Dort traf sie auf einen jungen Mann, in den sie sich leidenschaftlich verliebte. Um ihn wiedersehen zu können, legte sie erneut ein Feuer, um wieder in den Tempel zu fliehen und auf ihn zu treffen. Für ihre Tat wurde sie zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. In Gedenken an die junge Frau wird ihr Geliebter zum Mönch und verbringt den Rest seines Lebens auf Pilgerfahrt. Die unvorstellbare Verzweiflung, die Not und die Trauer dieses jungen Mönchs haben mich wirklich mitgenommen und letztendlich zu dieser Fotoserie inspiriert.

Oshichi © Michiko Chiyoda

Gibt es eine Art Botschaft, die du mit deiner Fotografie vermitteln möchtest?

Meine beiden aktuellsten Fotoserien ‘Oshichi‘ und ‘Starting a new Journey‘ sind unzertrennbar mit der Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen verbunden. Wie geht man mit dem Tod von nahestehenden Menschen um und wie kann man weiterleben? Ganz gleich ob Fremde, Familie oder Freunde. Wir alle müssen früher oder später sterben. Ich denke, dass wir unsere Aufmerksamkeit verstärkt auf diejenigen richten sollten, die zurückgelassen worden sind und die unter ihrem Verlust leiden. Das Gefühl des Mitgefühls, das wir anderen Menschen gegenüber hegen, ist ein guter Ausgangspunkt, um Trauer und Schmerz heilen zu können.

Oshichi © Michiko Chiyoda

Gibt es ein bestimmtes Foto, zu dem du dich besonders hingezogen fühlst oder das du mit einer einzigartigen Erinnerung verbindest?

Es gibt drei ganz besondere Bilder, die mir sehr nahegegangen sind. Ich habe sie auf der ‘Border‘-Ausstellung von Takuya Tsukahara im vergangenen Frühjahr in Tokyo gesehen. Alle 160 Bilder der Ausstellung widmen sich dem Kalten Krieg in Polen und wurden über einen Zeitraum von 22 Jahren in 7 unterschiedlichen Ländern aufgenommen.

Die besagten Bilder sind Teil einer Reihe aufeinanderfolgender Aufnahmen, die auf dem Friedhof von Ryakosvk in Polen aufgenommen wurden. Im ersten Bild sieht man einen Mann, der vor einem schneebedeckten Hügel mit einem Kreuz steht. Das zweite Bild zeigt den Friedhof von Ryakovsk aus der Vogelperspektive und die dritte Aufnahme wurde von einem Freund gemacht, der angesichts der traurigen Geschichte mit den Worten ringt. Alle drei Aufnahmen tragen die Schwere und Trauer vergangener Tragödien in sich und haben aus diesem Grund einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Die Bildunterschrift lautete wie folgt: “Lasst uns dies nicht als belangloses Ereignis vergessen, das irgendwann einmal in einem weit entfernten Land passierte”.

Gibt es Fotografen – oder Künstler aus anderen Bereichen -, die dich inspirieren?

Maßgeblich inspiriert haben mich die japanischen Fotografen Takuya Tsukahara, Eiko Hosoe, Syoji Ueda, sowie Josef Koudelka und Roger Ballen. Im Bereich der Kunst würde ich den japanischen Maler Sakai Hoitsu und die Künstlerin Fuyuko Matsui nennen.

Oshichi © Michiko Chiyoda

Wie sieht deiner Meinung nach die Zukunft der Fotografie aus? Besonders jetzt, wo die Meisten von uns ein Smartphone mit Kamera besitzen?

Die Verbreitung der digitalen Imaging Technologie und die Nutzung des Internets haben der breiten Öffentlichkeit den Zugang zu Bildbearbeitungstechnologien erleichtert. Früher war das nicht einfach, aber aufgrund der heutigen Technik kann jeder schöne Bilder schießen. Künstliche Intelligenz (AI) und die Deep-Learning-Technologie werden sich künftig so entwickeln, dass man sie auch auf dem Gebiet der kreativen Kunst einsetzen kann.  Für diejenigen von uns, die im Feld der Fotografie arbeiten, denke ich, dass diese Evolution wenig Auswirkungen auf den Wert unserer Arbeit haben wird. Es kann aber sicherlich dabei helfen, neue Ausdrucksformen zu schaffen. Was aber immer gleich bleibt – oder vielleicht immer wichtiger wird – ist unsere Aufgabe, das Innere unserer Objekte zu porträtieren und dabei unsere Perspektive auf die Dinge, auf das Weltgeschehen und auf unsere Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen.

Oshichi © Michiko Chiyoda

Hast du als renommierte Fotokünstlerin irgendwelche Ratschläge für die kommende Generation japanischer Fotografen, besonders vor dem Hintergrund des digitalen Zeitalters?

Anstelle von Ratschlägen würde ich an dieser Stelle gerne ein Zitat von Eugene Smith wiedergeben, dass ich auf der Magnum Photo Webseite gefunden habe.

“A photo is a small voice, at best, but sometimes – just sometimes – one photograph or a group of them can lure our senses into awareness. Much depends on the viewer; some photographs can summon enough emotion to be a catalyst to thought “, Eugene Smith

( zu Dt. “Ein Foto ist bestenfalls eine kleine Stimme, aber manchmal – nur manchmal – können ein Foto oder Mehrere unsere Sinne zu einem erweiterten Bewusstsein verhelfen. Viel hängt vom Betrachter ab; in manchen Fällen können Fotos so viele Emotionen hervorrufen, dass sie zum Katalysator fürs Denken werden”)

Starting a new journey © Michiko Chiyoda

Was kommt künftig auf dich zu? Gibt es irgendwelche Projekte, die du gerne mit uns teilen würdest?

Zur Zeit arbeite ich an mehreren Projekten gleichzeitig:

1. Ich arbeite gerade an der Buchveröffentlichung meiner Fotoserie “Michiko Chiyoda – Starting a new Journey”
2. Für meine Fotoserie “Buried Deep Inside” bereite ich gerade eine Einzelausstellung vor.
3. Ich arbeite gerade an einem Kalligraphie-Sammlung, die als Buch herauskommen soll.

Kurz zum Hintergrund. Die Mutter meiner engen Bekannten ist vor Kurzem gestorben. Sie war eine Kalligraphin, die eine große Sammlung an unveröffentlichten Kalligraphien hinterließ. Meine Freundin war sich nicht sicher, was sie mit all dem Material anstellen sollte. Ich schlug ihr vor, dass wir ihre Arbeiten in einem Buch zusammenfassen könnten, um es später mit Freunden und Familie zu teilen – als Andenken sozusagen.

Als ich die Kalligraphien zu Gesicht bekam, faszinierte und bewegte mich ihre Schönheit. Auch meine Freundin war sich nicht darüber bewusst, was für eine wundervolle Kalligrafin ihre Mutter war.

Während wir das Material durchschauten, teilten wir gemeinsame Erinnerungen an die Verstorbene. Ich habe in diesem Moment realisiert, dass ich die Reliquien von Verstorbenen auf diese Weise in gewisser Hinsicht einfangen kann. So kam es, dass wir kurzerhand den Entschluss fassten, ein Buch mit ihrer Kalligrafie-Sammlung zu veröffentlichen. Es soll noch in diesem Jahr erscheinen.

 

Projekte

Starting a New Journey (2016-2018)

Oshichi (2014-2016)

Buried Deep Inside (2014-)

Ausstellungen:

ARP / 2019: Internationale Fotoausstellung in Novosibirsk

Juni / 2019: Einzelausstellung Michiko Chiyoda “Oshichi” und “Starting a New Journey” Roonee 247 Fine Arts Gallery, Tokyo

ARP / 2018: “SOMEBANA/ Flower in Bliss” in der Stripe House Galerie in Tokyo & Hiroshima (mit Midori Hate)

Letzte Auszeichnungen:

2018: 2018 Critical Mass Top 200

 

Michiko Chiyoda

Webseite: www.michikochiyoda.com
Blog: Michiko Chiyoda Photo Blog 
Instagram: Michiko_Chiyoda
Facebook: Michiko Chiyoda Photography