Kaum jemand hat die Proteste der Regenschirm-Bewegung in Hongkong so eindringlich porträtiert wie der Fotograf Aaron Anfinson. Im Interview mit xPlicitAsia spricht er über seine Bilder, die Einzigartigkeit der Millionenmetropole und die Auswirkungen der Demokratiebewegung auf das heutige Hongkong.
Barrikaden, Tränengas und Verletzte: Im Herbst 2014 gehen Zehntausende Menschen in Hongkong auf die Straße, um für mehr Demokratie in der Sonderverwaltungszone zu demonstrieren. Die Häuserschluchten der Millionenmetropole verwandeln sich in diesen Tagen in ein Meer aus Regenschirmen. Diese sind zum Symbol der Protestbewegung geworden, nachdem die Menschen sie zum Schutz vor Tränengas nutzten. Als die Demonstranten – die meisten von ihnen Studenten, Schüler, Familien oder Aktivisten – weite Teile der Innenstadt besetzen, kommt es zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei, die mitunter Pfefferspray, Tränengas und Schlagstöcke einsetzt. Die Bilder der Unruhen gehen um die Welt – nur in China kommen sie nicht an. Hier wird die Berichterstattung zensiert. Sämtliche Einträge zu den Unruhen sind aus den sozialen Netzwerken verschwunden und sogar der Bilderdienst Instagram wurde kurzerhand komplett gesperrt.
Aaron Anfinson
Für Fotografen und Berichterstatter ist die strikte Zensur eine Herausforderung. Viele fürchten um ihre Anstellung, andere wollen es sich nicht mit Peking verscherzen und halten ihre Bilder und Berichte zurück. Nicht so Fotograf Aaron Anfinson, der die Bewegung in seinen Bilderserien ‘Umbrella Revolution’ und Hong Kong Voice eingefangen hat. Von hoher künstlerischer Qualität porträtiert Anfinson die Protagonisten der Hongkonger Proteste, die bewaffneten Polizisten, die Verzweiflung, die Erschöpfung und den Mut der überwiegend jungen Menschen, die sich mit Atemmasken und Taucherbrillen vor dem Tränengas der Sicherheitskräfte zu schützen versuchen. Jeden Tag zieht es den Fotografen zu den Schauplätzen der Unruhen. Er bewundert den Mut derjenigen, die alles bereit sind in Bewegung zu setzen, nur um gehört zu werden.
Seine Bilder sind ein eindringliches Zeitzeugnis und erzählen von einem Hongkong, das sich durch die Proteste 2014 grundlegend verändert hat. Im Interview mit xPlicitAsia spricht der Fotograf über die Ereignisse vor wenigen Jahren, die Einzigartigkeit der Millionenmetropole und über die Auswirkungen der Protestbewegung auf das heutige Hongkong.
Der in einer US-amerikanischen Kleinstadt geborene Aaron Anfinson hat sich schon während seiner Promotion an der Hong Kong Universität (HKU) mit der Dokumentation von Konflikten und politischen Protestbewegungen auseinandergesetzt. Er lebt heute in Washington, ist Gründer des Unternehmens Critica Research and Analysis und arbeitet nebenbei als Reportagefotograf.
Aaron, du hast an der Hong Kong Universität deinen Doktor gemacht, bist als Forschungsanalyst tätig und hast dein eigenes Unternehmen gegründet. Was hat dich dazu inspiriert, auch noch als Reportagefotograf zu arbeiten und wie bist du dazu gekommen?
Zur Fotografie bin ich gekommen, weil ich zunächst das Bedürfnis hatte, flüchtige Momente des alltäglichen Lebens einzufangen. Ich habe einen Großteil meines Lebens im Ausland gelebt und die Fotografie war meine Art, ehrliche Momente zu “retten” bevor sie für immer verloren gingen. Mit der professionellen Fotografie beschäftigte ich mich zunehmend, als ich mit der Zeit immer mehr Arbeiten von klassischen und zeitgenössischen Reportagefotografen zu Gesicht bekam.
Wie die Gesellschaft das Weltgeschehen wahrnimmt und in Erinnerung behält, wird maßgeblich durch die Fotografie beeinflusst. Das begann ich zu realisieren, als ich nach Ausbruch des Arabischen Frühlings im Mittleren Osten lebte. Gleichzeitig wird das Genre der Fotografie immer weiter an den Rand gedrängt. Durch Bilddatenbanken wie Getty Images wird beispielsweise die Reportagefotografie zu einer Art Ware für Autoren und Forscher, die sich hier – losgelöst von den Erlebnissen des Fotografen – einfach bedienen können. Von der Reportagefotografie als Prozess fühle ich mich angezogen, weil sie die tiefgreifendste und direkteste Art ist, ein Ereignis zu erleben und zu verstehen.
Wie würdest du deinen persönlichen Stil definieren und gibt es eine Botschaft, die du mit deiner Fotografie vermitteln möchtest?
Meine Fotografie kann man als “slow journalism” (zu Dt. Langsamer Journalismus) bezeichnen. Ich benutze hauptsächlich Rangefinder Cameras (Messsucherkameras), sowohl analog als auch digital. Für ein Bild besuche ich die gleichen Orte mehrmals und mache zunächst unvoreingenommene Straßenportraits. Oft mache ich nur ein Einzelbild einer Szene, höchstens 3. Mir persönlich ist es wichtig, dass meine Bilder ungestellt sind – sogenannte Schnappschüsse. Ich habe den größten Respekt vor Fotografen, die ihre Bilder kunstvoll planen und inszenieren. Für mich besteht die Magie allerdings darin, etwas aufzunehmen, das “da draußen” passiert – ohne dass ich es beeinflussen oder kontrollieren kann.
Was brachte dich nach Hongkong und was macht diese Stadt für dich so einzigartig?
Ich besuchte Hongkong zum ersten Mal, als ich noch in Vietnam lebte. Ich habe mich sofort in diese Stadt und ihre unbändige Energie verliebt. Ausgerüstet mit einem Koffer, einer Kamera und nur ein paar Cents in der Tasche, entschied ich mich zu bleiben. Hongkong hat mich so in seinen Bann gezogen, dass ich jeden Job angenommen hätte, nur um zu bleiben. Ich kann die obsessive Begeisterung für Metropolen wie Tokyo und New York zwar nachvollziehen, aber diese Städte können Hongkong nicht das Wasser reichen. Es gibt keinen Ort auf dieser Welt, den man mit Hongkong vergleichen könnte.
Aufgrund ihrer Kolonialgeschichte und ihres besonderen Verwaltungsstatus musste sich die Stadt immer mit begrenztem Raum begnügen. Hier gab es keinen Platz, also baute man in die Höhe. Aufgrund dessen wurde Hongkong zur vertikalsten Stadt der Welt. Dystopische Elemente gehen hier Hand in Hand mit futuristischen Gebäuden und Architekturstilen. Platz in dieser Stadt ist teuer und die Wohnungen sind klein, also spielt sich das Leben auf der Straße ab. Der Alltag der Menschen dringt in den öffentlichen Raum vor und schafft so eine perfekte Umgebung für die Fotografie.
In deiner Fotoserie Hong Kong Voice dokumentierst du die pro-demokratischen Proteste der Stadt. Was hat dich dazu inspiriert, diese Demonstrationen zu porträtieren und hast du eine persönliche Haltung zum Protest als politische Ausdrucksform?
In Hongkong wird die Meinungs- und Pressefreiheit durch das Grundgesetz geschützt. Nirgendwo in Asien gibt es sowas. Singapur könnte man im Vergleich dazu als drakonisch bezeichnen. Schon in der Vergangenheit war Hongkong einer der wenigen Orte, wo Menschen die chinesische Regierung offen kritisieren konnten. Damals war die Stadt ein Ort für Dissidenten, die aus China vertrieben wurden.
Diese hochgeschätzte Freiheit hat in jüngster Zeit an Bedeutung verloren. Buchhändler wurden entführt und Demonstranten willkürlich von der Polizei angeklagt. Ich hatte das Glück, in Hongkong zu sein, als die Menschen auf diese Entwicklung und den zunehmenden Einfluss Chinas reagierten. In meiner Fotoserie hebe ich die Menschen hervor, die bereit sind, alles in Bewegung zu setzen, um gehört zu werden. Es ist dieser Kampf für die grundlegende Repräsentation und die Meinungsfreiheit, der sich 2014 im “Umbrella Movement” (zu Dt. Regenschirm-Bewegung”) manifestierte.
Was hat sich deiner Meinung nach seit der Regenbogen-Bewegung geändert und was hat die Bewegung bisher erreicht?
Die Regenschirm-Bewegung hätte ihr erklärtes Ziel auf ein universelles Wahlrecht nie erreichen können. Trotzdem waren die Proteste der vermutlich größte öffentliche Widerspruch gegen die Volksrepublik China. Aus ihr gingen neue pro-demokratische Kandidaten und sogar neue politische Parteien hervor, wie z.B. Die Demosistō. Diese wurde u.a. von Joshua Wong, Agnes Chow, Oscar Lai und anderen Aktivisten der Umbrella-Bewegung gegründet. Meiner Meinung nach besteht die nachhaltige Wirkung des Umbrella-Movements darin, dass es die lokale Wahrnehmung der Regierung und der Polizei von Hongkong verändert hat.
Hongkong hat sich bis zu diesem Zeitpunkt immer als Oase der Rechtsstaatlichkeit präsentiert. Von Anti-Korruptionskampagnen bis hin zur Einführung von Standards in der Lebensmittelsicherheit ist die Stadt immer stolz darauf gewesen, dass sie ganz anders arbeitet, als jede andere Regierung in der Region. Die im Fernsehen übertragene Polizeibrutalität während der Proteste und das anhaltende Vorgehen gegen die überwiegend jungen und friedlichen Demonstranten haben die Art und Weise, wie viele Menschen über ihre Stadt denken, nachhaltig erschüttert.
Durch deine Berichterstattung und dadurch, dass du die Gesichter der Protestbewegung porträtierst, trägst du dazu bei, das Bewusstsein für diese Probleme zu schärfen. Glaubst du, dass du damit eine Lücke schließt, die von den traditionellen Medien ausgelassen wurde? Auch weil diese einer Vertrauenskrise ausgesetzt sind?
Sicherlich. Und angesichts der Zehntausenden, die für diese Bewegung auf die Straße gingen, ist das auch ein wichtiger Punkt. Jede Erwähnung der Regenschirm-Bewegung wurde aus den staatlichen Medien zensiert und aus allen sozialen Netzwerken in China gelöscht. In Hongkong berichtete man zwar darüber, als die Ereignisse tatsächlich stattfanden, aber (Selbst)zensur ist auch hier ein großes Thema, besonders da die Menschen versuchen, sich zu erinnern und den Ereignissen zu gedenken. Diese Vertrauenskrise in die Medien ist jedoch keineswegs auf die Grenzen Chinas beschränkt. Meine Bilder wurden sogar von den Magazinen großer Kamerahersteller entfernt, weil diese fürchteten, den chinesischen Markt zu verlieren, falls China sich angegriffen fühlen sollte, weil man auf indirektem Wege Dissidenten unterstützt. So wie Jee Widener’s ikonisches Tank Man-Bild mit China für Kontroversen sorgte, so werden auch Bilder von Hongkong’s zivilem Ungehorsam als “Belastung” angesehen.
Die intensive öffentliche Natur der Proteste hat zu einem erhöhtem Maß an Vorsicht und Wachsamkeit geführt. Viele Schlüsselfiguren und Unterstützer der Protestbewegung wurden strafrechtlich verfolgt. Hast du dir nie Sorgen um deine eigene Sicherheit gemacht?
Zahlreiche Verleger strichen Publikationen und man sagte mir, dass ich auf einer schwarzen Liste stehe und deswegen nicht nach China reisen könne, ohne meine Kameraausrüstung zu verlieren. Trotzdem genieße ich gewisse Privilegien. Im Gegensatz zu vielen einheimischen Protestlern hatte ich die Möglichkeit, Hongkong jederzeit zu verlassen. Weil ich ein ausländisches Passport und eine ausländische Staatsbürgerschaft habe, kann ich viel freier reisen. Nicht so andere Demonstranten, die alles aufs Spiel setzten – so zum Beispiel auch die Ablehnung durch ihre Arbeitgeber oder ihre Familien.
Das unmittelbarste Sicherheitsrisiko war während der Proteste selbst. Als wir versuchten, durch die Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizisten zu navigieren, setzte man uns gegenüber Pfefferspray und Tränengas ein. Niemand wusste, was als Nächstes passieren würde. Bilder vom Tiananmen-Massaker tauchten plötzlich in meinem Kopf aus, als die Polizisten Banner mit der Aufschrift: “DISPERSE OR WE WILL OPEN FIRE” (zu Dt. Lösen Sie sich auf, sonst eröffnen wir das Feuer) hochhielten. .
Die gefährlichste Situation war während der Unruhen am Mong Kok. Mong Kok ist einer der am dichtesten besiedelten Orte der Welt. Hier kam es zu schweren Kämpfen zwischen Demonstranten, den Triaden und der Polizei. Schnell verbreitete sich das Gerücht, dass die Triaden angeheuert wurden, um die auf den Straßen campenden Demonstranten zu attackieren. Es strömten so viele Menschen auf die Straßen, dass es sich anfühlte, wie ein überfüllter Zugwagen. Die Leute konnten nicht so gut kämpfen, weil sie kaum Platz hatten, ihre Arme auszuholen und zuzuschlagen. Im Nachhinein hätten so viele Menschen zertrampelt werden können.
Wie wird deiner Meinung nach das Verhältnis zwischen China und Hongkong in 10 Jahren aussehen?
Das Verhältnis wird auch in Zukunft angespannt, problematisch und divergent sein. Der Dissens und die Ablehnung wurden vielleicht in den Untergrund gedrängt, aber die Aufständischen, der Protest und die Ablehnung werden niemals verschwinden. In vielerlei Hinsicht hat das Vorgehen Pekings gegen Hongkong aber dazu beigetragen, die Vorstellungen von einer eigenen “Hongkonger Identität’”zu stärken. Ein/e sogenannte/r “Hongkonger/in” zu sein, ist zunehmend an die lokalen Sprachen (Kantonesisch und Englisch statt Mandarin), an das Schreiben (Langzeichen statt Kurzzeichen) und an zunehmenden Aktivismus gebunden. Vor zehn Jahren hätte man es vermutlich als lächerlich empfunden, sich für eine Autonomie Hongkongs zu engagieren. Heute läuft bei jedem Protestmarsch mindestens eine Person mit, die sich eine vollständige Trennung von China wünscht.
Was war dein bisher unvergesslichstes Fotoerlebnis? Gibt es ein Bild, von dir, das eine bemerkenswerte Hintergrundgeschichte hat?
Im Hinblick auf Hongkong, wäre es das Foto des “Umbrella Man” (zu Dt. Regenschirm-Mann). Dieses Foto verhalf der Bewegung zu ihrem ungewöhnlichen Namen. Es entstand, als ich hustend und mit tränenden Augen durch die Menge fliehender Demonstranten lief. Inmitten der dichten Wolken aus Tränengas stand ein Mann, der in jeder Hand einen offenen Regenschirm hielt und diese in die Höhe streckte. Ich machte sofort Bilder von ihm, aber meine Version schaffte es nie auf das Cover des Times Magazins – diese Ehre ging an Xaume Olleros. Für mein Bild benutzte ich eine feste Brennweite und stand unmittelbar neben dem Demonstranten. Dieses Bild markiert für mich den Anfang meines Wirkens als Reportagefotograf. Schnell war ich nahezu besessen von den Protesten und verbrachte jeden Tag auf den Schauplätzen der Unruhen.
Gibt es irgendwelche Künstler – egal aus welchem Genre – die dich inspirieren?
Mich inspiriert die Poesie von Tammy Ho und die Street Photography von Nicholas Petit. Im Allgemeinen fasziniert mich die Semiotik und die Fähigkeit der digitalen Fotografie, etwas unmittelbar zu erfassen, zu manipulieren und zu teilen und damit die Macht und Praxis der politischen Repräsentation zu beeinflussen.
Ich liebe Fotografie, ich konsumiere sie täglich und ziehe aus ihr meine Inspiration. Diese kann von Woche zu Woche unterschiedlich sein. Ich glaube fest, dass man Bilder “lesen” kann. Fotografie ist eine Kunstform für sich selbst. Sie sollte für sich selbst stehen und sprechen. Sie sollte nicht nur zum “Ausschmücken” von Texten genutzt werden.
Hast du irgendwelche bevorstehenden Projekte, Kooperationen oder Ausstellungen, auf die du uns aufmerksam machen möchtest?
Zur Zeit habe ich ein Projekt mit dem Namen Oyate am Laufen, was frei übersetzt soviel heisst wie “Nation”. Dafür werde ich den Sommer in einem Indianerreservat verbringen und kulturelle Artefakte fotografieren. Die Artefakte sind von politischer Bedeutung, weil sie wichtige Zeugnisse der historischen Zwangsvertreibung sind. Die Bilder werde ich in einem Bildband präsentieren und in Galerien in Washington DC ausstellen. Im September diesen Jahres jährt sich auch das fünfjährige Bestehen der Regenschirm-Bewegung in Hongkong. Dazu plane ich auch ein Projekt, aber ohne die nötigen Details werde ich noch nichts verraten können.
Aaron Anfinson
Homepage: www.aaronanfinson.com
Instagram: @aaron.anfinson
Twitter: @aaron.anf