Der renommierte Fotograf Hai Zhang gehört zu den interessantesten Fotokünstlern aus dem gegenwärtigen China. Seine Arbeiten wurden in Museen, Galerien und kulturellen Einrichtungen auf der ganzen Welt ausgestellt.
Hai Zhang wurde in Kunming, China geboren und lebt heute in New York. Von Beruf ist er eigentlich Architekt, doch die Liebe zur Fotografie brachte ihn dazu, seine Profession an den Nagel zu hängen und sich ganz der Kunst zu widmen. Seine eindrucksvollen Bilder, die er größtenteils in seinem Heimatland, aber auch in den USA aufgenommen hat, lösen vielfältige Assoziationen aus. Sie vermitteln Monumentalität und nicht selten Gefühle wie Nostalgie und Entfremdung. Auch werfen sie einen vielschichtigen Blick auf sein Heimatland China im Wandel der Zeit.
Im Interview mit xPlicitAsia spricht der renommierte Fotograf über seinen Werdegang, über die Fotografie als Medium und über sein Heimatland China.
Erzähl uns, wer du bist?
Ich bin ein chinesischer Künstler aus New York. Die meisten meiner Arbeiten beziehen sich auf die Fotografie als Kunstform oder basieren auf ihr. Geboren bin ich in Kunming. Kunming ist die Hauptstadt der Provinz Yunnan im Südwesten Chinas. An der School of Architecture der Chongqing Universität erwarb ich zunächst meinen Bachelor in Architektur. Für meinen Master-Abschluss zog ich dann ins Ausland, genauer gesagt nach Miami, wo ich an der Florida International University studierte.
Was brachte dich nach New York, wo Du derzeit lebst?
Ehrlich gesagt war es das tolle chinesische Essen, das mich zunächst in diese Stadt zog. Schon während meines Studiums reiste ich häufig nach New York. Mitunter, weil dort die beste und authentischste chinesische Küche serviert wird.
Was kannst du uns über deine Projekte erzählen?
Nach meinem Herzensprojekt Unintended Homecoming, arbeitete ich zunächst am dritten Teil meiner China-Trilogie Aged Innocence weiter. Aged Innocence eine nüchterne Reflexion und ein Archiv der Erinnerung an meine Reisen durch mein Heimatland. Die Reihe besteht aus fast 1.700 Schwarz-Weiß-Drucken von Fotos in Fotocollagen.
Auch das Projekt The Beginning ist ein wichtiger Meilenstein meiner Arbeit. The Beginning begann im Frühjahr 2017. Ich habe mich selbst dazu verpflichtet, jeden Tag eine Rolle 35mm-Film aufzunehmen. Die meisten Fotos wurden in Harlem und der Bronx in New York City gemacht. Ab August 2019 habe ich insgesamt 365 Rollen fertig gestellt und das Projekt um Collagen und Gedichte erweitert. Das Projekt wurde im September 2019 auch auf dem renommierten Chambre 07 Photography Festival in Aubenas, Frankreich ausgestellt.
Was sind zentrale Themen in deinen Arbeiten?
Zwei Aspekte der Fotografie sind für mich von wesentlicher Bedeutung – was sind die Beweggründe für den Akt der Fotografie und wozu sollen Bilder führen bzw. was sollen sie auslösen. Während Fotografien pflichtbewusst ein monumentales Zeugnis darstellen, gibt mir der Prozess des Fotografierens einen Zugang zur direkten Beobachtung und Teilnahme an den Ereignissen.
Da mich sehr interessiert, wie der Mensch die soziale Evolution erschafft, verändert und darauf reagiert, beschäftigt sich meine Fotografie mit den Menschen und ihrem sozialen Kontext.
Als renommierter Fotograf wurden deine Arbeiten in Galerien weltweit ausgestellt. Wie bist du zur Fotografie gekommen, und was hat dich dazu inspiriert, Fotograf zu werden?
Zunächst einmal fühle ich mich sehr privilegiert und bin glücklich über die Möglichkeit, im Bereich der Fotografie zu arbeiten. Während meiner Arbeit als Architekt in den USA, begann ich zunächst spontan und später regelmäßig zu fotografieren. Als Immigrant im neuen Land war ich erstaunt und inspiriert, wie das Fotografieren mich dazu brachte, die oft vergessenen und ignorierten Aspekte des Lebens zu sehen. Es zwang mich auch, mich vor das Subjekt zu stellen und es zu analysieren. Ich empfand die Fotografie als ein effektives und persönliches Medium, um als Einwanderer, dessen Muttersprache nicht Englisch ist, für mich selbst zu sprechen.
Mein erstes zusammenhängendes Werk trug den Namen Aphasie (medizinischer Begriff für Sprachstörungen). Im Jahr 2008 entschied ich mich, den Architektenjob zu verlassen, um mich voll und ganz der Fotografie zu widmen. Von da an gab es quasi kein Zurück mehr. Ich bin sehr dankbar für meine Familie und für meine Freunde. Sie glaubten immer an mich und haben mich in dieser Entscheidung stets unterstützt.
Wie würdest du deinen persönlichen Stil der Fotografie definieren und gibt es eine Botschaft, die du mit deiner Arbeit vermitteln möchtest?
Ich mag das Wort Stil nicht. Für mich bedeutet Stil eine Schublade. Der Akt des Kunstschaffens muss frei und grenzenlos sein. Stil ist wie Schwerkraft – unvermeidlich, aber wir müssen mit ihm kämpfen. Künstler wiederum brauchen eine Perspektive, die ein zusammenhängendes Werk verkörpert. Ich denke, ich suche immer nach dem Verständnis des Kontextes, in dem wir uns als Individuen befinden.
Du fotografierst deine Motive sowohl aus der Ferne als auch aus der Nähe. Was ist Dein Ansatz, wenn du Menschen auf der Straße fotografierst?
Ob auf der Straße oder im Studio, das Verständnis für das Thema ist nie selbstverständlich. Du musst es suchen und wissen, dass es ein Prozess ist. Wie man Menschen einbezieht, ist Teil des Prozesses.
Was hat dich inspiriert, deine Serie Unintended Homecoming in China zu fotografieren?
Ende 2008 erhielt ich ein Forschungsstipendium der Rafael Vinoly Architecture Research Foundation in New York. Dieses Stipendium ermöglichte und verwirklichte, was ich mir erhofft hatte – die sich ständig verändernde, sich schnell entwickelnde Urbanisierung in China, meiner Heimat, die ich seit vielen Jahren nicht mehr betreten hatte, zu fotografieren. Ich habe in Großstädten wie Shenzhen und Shanghai festgehalten, wie sich die Urbanisierung auf das Wohnen und die Lebensgrundlagen der Menschen auswirkte. Meiner Arbeit mit dem Titel Don’t Follow Me, I’m Lost folgten ein Künstlerbuch und mehrere Ausstellungen. Sie war der erste Teil einer Trilogie über China. Diese Trilogie spiegelt eine persönliche Auseinandersetzung mit meiner Rückkehr in mein Heimatland. Eine Begegnung, die mich einerseits erstaunte und zugleich ein Gefühl der Verlorenheit weckte.
Im Prozess dieser Arbeit entstand auch der Wunsch, die ländlichen Regionen Chinas zu erkunden und zu fotografieren. Ich fühlte, dass das ländliche China die Basis von allem ist. Es ist die Grundlage für die Art und Weise, wie Menschen miteinander verbunden sind. Gleichzeitig wird hier ersichtlich, wie die Menschen mit der Urbanisierung zu kämpfen haben, wie schwierig das Leben auf dem Land ist und warum sich viele Menschen letztendlich dazu gezwungen sehen, in die großen Städte zu ziehen. Eine Auseinandersetzung mit diesen Themen war auch eine persönliche Auseinandersetzung mit mir selbst und meiner Nostalgie. Diese Nostalgie verleitete mich dazu, weiter und unentwegt in die ländlichen und weniger entwickelten Gebiete Chinas zu reisen. Die Bilder dieser Reisen habe ich in Unintended Homecoming zusammengetragen. Unintended Homecoming ist der zweite Teil meiner China-Trilogie.
Wie beeinflusst dein kultureller Hintergrund und die chinesische Kultur als Ganzes deine Arbeit und Kreativität?
Da ich seit fast zwei Jahrzehnten in den USA lebe, habe ich das Glück, viele Künstler mit sehr unterschiedlichen Hintergründen zu treffen. Interessanterweise bin ich nicht nur von den Unterschieden und der Einzigartigkeit überrascht, sondern auch von den Gemeinsamkeiten, von Verbindungen und von Anschauungen, die wir alle teilen.
Meine chinesische Identität und Kultur spiegelt sich vor allem in meinem Selbstverständnis meiner Arbeit – Geduld, Ausdauer und Glück – wieder.
Gibt es ein bestimmtes Bild von dir, das eine bemerkenswerte Hintergrundgeschichte hat, die du mit uns teilen möchtest?
Dies ist eine schwierige Frage. Aber mir persönlich gefällt das Bild, auf dem zwei junge Frauen Motorrad fahren. Ich war zu dieser Zeit in Xishangbanna in der Provinz Yunnan in einem Auto unterwegs. Ich schaute aus dem Fenster und sah diese zwei jungen Frauen auf einem Motorrad. Es war eine erwartete, aber auch eine unerwartete Szene auf der Straße. Hier war ich jedoch begeistert von der Unabhängigkeit und dem Selbstvertrauen, das diese zwei junge Frauen ausstrahlten. Sie waren zugleich tough und zart. Diese Art von Bildern treibt mich an, immer wieder nach China zurückzukehren, um Bilder zu machen, aber auch um Menschlichkeit und Hoffnung zu finden.
Wie wird deine Arbeit in deiner Heimat wahrgenommen? Kannst du uns ein wenig über die kreative Szene in China erzählen?
Ehrlich gesagt, hatte ich in China bisher nur wenige Ausstellungen und Präsentationen. Aber soweit ich fühle, sind die Menschen begierig darauf zu Neues zu sehen, zuzuhören und Wissen zu erlangen. Während des Prozesses meiner Arbeit war ich überrascht, wie offen die Menschen sind und wie viel Menschen bereit sind, sich an dem Prozess zu beteiligen.
Als Fotograf bist du viel gereist und hast Bilder von verschiedenen Orten gemacht, einschließlich Costa Rica, Russland und Südostasien. Wir fragen uns, was deine Lieblingsorte, sowohl zum Reisen als auch zum Fotografieren sind?
Jeder Ort hat seine eigenen Eigenschaften, seinen eigenen Charme und seine eigenen Geschichten. Meine Reisen nach Russland und Südostasien waren interessant, aber ich glaube, zu kurz. In Costa Rica verbrachte ich mehr Zeit in einem kleinen Bergdorf und bin jahrelang dort hin zurückgekehrt. Das war für mich eine sehr interessante Erfahrung.
Eine Zeit war ich regelrecht davon besessen, an Orte zu reisen, an denen ich noch nie war. Allmählich denke ich als Künstler, dass es am wertvollsten ist, an den gleichen Ort zurückzukehren und die gleichen Menschen immer wieder zu sehen. Dem liegt eine Entwicklung zugrunde, die man wunderbar porträtieren kann. Reisen ist immer sehr wichtig, aber wir müssen wissen, dass die Suche nach Verständnis ein langer Prozess ist.
Kannst du uns einige Künstler nennen – egal aus welchem Bereich – die dich in deiner Kreativität inspiriert haben?
William Christenberry, Alberto Garcia-Alix, Anselm Kiefer, Michael Borremans, James Castle, Peter Hessler and Jose Saramago
Welche Ziele verfolgst du in den nächsten Jahren? Gibt es anstehende Projekte oder Ausstellungen, auf die du die Leute aufmerksam machen möchtest?
Von 2006 bis 2014 bin ich mehrmals nach Alabama gereist, um dort zu fotografieren. Die Reisen ergaben eine Serie mit dem Titel To Kill A Mockingbird und eine Reihe von Collagen in The eye is not satisfied with seeing. Eine besondere Ehre war es, dass einzelne Bilder aus dieser Serie im Juli 2019 von der Library of Congress of the United States aufgenommen wurden.
Daraufhin arbeitete ich mit der Troy University in Troy, Alabama zusammen, um einen Workshop für das Herbstsemester 2020 sowie eine Ausstellung im Museum der Universität und auf dem Stadtplatz von Troy zu entwickeln. Die Ausstellung verband meine Fotografien aus dem ländlichen China und Alabama mit den Ergebnissen des Workshops.
Während der Corona-bedingten Ausgangssperren habe ich mit meinem Sohn an mehreren Skulpturen und Installationen gearbeitet und diese anschließend in Schwarz-Weiss-Fotografien festgehalten. Mit dem in Berlin ansässigen Musiker und Instrumentalvirtuosen Wu Wei habe ich dazu ein Video gemacht. Die zugehörige Musik wurde von ihm arrangiert. Sie basiert auf einer alten Partitur aus Japan. Zu hören sind Wu Wei, der Sheng (ein traditionell chinesisches Musikinstrument) spielt und der deutsche Akkordeonist Stefan Hussong am Akkordeon.
HAI ZHANG
Webseite: www.oceanmate.com
Instagram: @ocean_mate